Kunst als Rekonstruktion ihrer Erfahrung: Mittelbarkeiten im Werk von Thomas Moor

Art as Reconstruction of its Experience: Mediacies in the Work of Thomas Moor

Peter J. Schneemann



Published 2024 in Value Voyage

(scroll for english)

Es ist ein Diktum, das die Moderne gerne als Utopie und Doktrin artikulierte: Kunsterfahrung ist eine Erfahrung der Unmittelbarkeit. Mit Begriffen von Präsenz und Gleichzeitigkeit beschwört die Kunstgeschichte Qualitäten, mit denen die Diskurse um Aura, Original und Authentizität aufgegriffen werden. Wird Kunstwahrnehmung jedoch in der konkreten Situation beschrieben, gerahmt durch institutionelle Regelwerke und geformt durch gesellschaftliche Rituale, zeigt sich ein sehr viel komplexeres Spiel. Verschiedene Mittelbarkeiten, Temporalitäten und Referenzsysteme entfalten ihre Kraft. Die Funktion der Rahmung, des «Parergons», rückt ebenso in den Fokus wie dienende Paratexte, Parabilder und andere «Begleitmedien».
Auf der einen Seite konkretisiert sich die Wahrnehmung im Verhalten gegenüber einem Werk, ja, dem «Umgang» mit diesem. Wie weit nähere ich mich an? Welche Handlungsanweisungen zwischen Distanz und Berührung gibt es? Welchen Sinnen wird Priorität eingeräumt? Wie verhält sich mein eigener Körper zur Physis des Werkes? Wird mir ein Sitzplatz angeboten? Darf ich verweilen oder sogar Hand anlegen? Werde ich als Statist eines interaktiven Settings aufgerufen, das nun wiederum andere zu Zuschauenden werden lässt?
Auf der anderen Seite hebt sich die Vorstellung der unmittelbaren Wahrnehmung als einem unschuldigen oder reinen Setting ebenso durch einen immer individuell kontaminierten Erfahrungshorizont auf. Wir setzen das jeweilige Werk bewusst oder auch unbewusst in einen Referenzrahmen – sei dieser persönlich geprägt, von historischen Diskursen abgesteckt oder mit Populärkultur und Warenwelt verschränkt. Interikonische Bezüge sind von der Wahrnehmung des Einzelwerks ebenso wenig zu trennen wie von den Ritualen zu isolieren, denen wir in Galerie und Museum folgen.
Die «Gegenwärtigkeit» (presentness) in der Kunstbetrachtung überlagert sich mit anachronen Momenten der Erwartung und der Erinnerung. Spätestens bewusst wird Betrachtenden diese hochkomplexe Überlagerung in den immer zahlreicheren Ausstellungen und Displays, die zwischen Rekonstruktion und Aktualisierung operieren. Kunstbetrachtung kann hier als ein Nachleben, als Reenactment spezifischer Perspektiven beschrieben werden. Die historische Verortung eines Werkes wird angereichert durch die vergangenen Rezeptionsprozesse, durch die historische Distanz und den von der Gegenwart geprägten «Erfahrungshorizont» (Hans-Georg Gadamer) des gegenwärtigen Publikums.

Im Werk des Schweizer Künstlers Thomas Moor ziehen sich beide Auseinandersetzungsformen mit den erweiterten Modi der Wahrnehmung wie ein roter Faden durch die unterschiedlichen Werkgruppen. Seine Annäherungen und Befragungen zeigen sich dabei als eine Erprobung ganz unterschiedlicher Medien und Strategien. Sie reichen von installativen Settings über dokumentierte Performances bis hin zur Malerei. Die Chronologie der Projekte ergibt eine erstaunlich stringente Narration: Die frühen Aktionen stecken ein Feld der Beobachtung im Betriebssystem Kunst ab und greifen damit spielerisch Gesten der historischen Institutionskritik auf. Diese fragte nach den Regelwerken der räumlichen und gesellschaftlichen Einbindung, lenkte den Blick auf den Rahmen und arbeitete damit die Bedeutung des Kontextes heraus. Die Künstlerin Louise Lawler schwenkte die Kamera so, dass etwa die Sitzbank im Museum oder die Gitter des Depots als Teil des Dispositivs sichtbar wurden. Welche Machtstrukturen und Kontrollmechanismen übersehen wir so gerne? Höchst aktuell erscheinen in der gegenwärtigen Diskussion um die Klimakatastrophe Moors Thermohygrografenzeichnungen Climate Control (2014–2016), in denen die Aufzeichnung des künstlichen Klimas des Museumsraums, kontrolliert gemäss der Verpflichtung zur Konservierung der Artefakte, selbst den Platz des Kunstwerks einnimmt.
Das Interesse am Vokabular des Präsentierens verbindet die Storage Unit Shows (2012), die den Ort des Bewahrens mit dem sozialen Moment der Ausstellung verbinden, mit den Mood Paintings. Sie zitieren und translozieren die exakten Wandfarben verschiedener Ausstellungsorte in neue Ausstellungslokalitäten. Die reproduzierte Farbfläche erhält dabei den Status des monochromen Statements der Moderne.

Touching Tangibles ist der Titel einer Performanceserie, die Moor 2013–2014 als Diadokumentation im Rahmen des Kiefer Hablitzel Preises an der Art Basel produzierte und die viel Beachtung fand. Wir sehen eine Figur in einem weissen Ganzköperanzug, die mit Kunstwerken im Ausstellungskontext und in Privatsammlungen interagiert. Durch ihre Bewegungen entwickelt sich eine Semantik des Affektiven, entstehen Gesten voller Zärtlichkeit und Sorgfalt. Die Figur erprobt Berührungen, die dem Publikum streng untersagt werden müssen. Die weisse Figur hat aber auch etwas Generisches, jenseits jeder Individualität und sozialen Kategorie. Als «Dummy » erinnert sie an die Architekturmodelle von Museen, die mit kleinen Stellvertreterfigürchen ausstaffiert werden. Die Institution Museum braucht die «Betrachtenden», sie werden als Zielgruppe adressiert und als Typen entworfen. Es erscheint bedeutsam, wie in den letzten Jahren der physische «Umgang» mit der Kunst neu betrachtet worden ist. Bei aller Aufwertung des Rezeptionsprozesses als für den Kunstbegriff konstitutives Element fällt doch auf, wie die kunsthistorische Illustration über Jahrzehnte die Betrachtenden auf ihren installation shots ausgeblendet hat. Erst in jüngeren Publikationen tauchen Bilder vom Publikum auf. Das Art Handling, als Umlagern, Abbau, Transport und Aufbau, erweitert das reine Schauen um eine körperliche Annäherung. Der Sehsinn versetzt kein Werk, doch das Handling verbindet die Berührung mit Achtsamkeit. Jeder Handabdruck hinterlässt eine Spur von Schweiss, die eine Oberfläche beschädigen kann. Der weisse Ganzkörperanzug erscheint wie eine Referenz an die im Museumskontext obligatorischen weissen Handschuhe. Moor hat Erfahrungen in diesem Bereich und beobachtet als Künstler die komplexen Implikationen des Art Handlings. So schenkt er auch den Folien und Stoffen der Umhüllung der Werke besondere Beachtung. Was leichtfertig als Abfall der Logistik weggeräumt wird, setzt Moor als Chiffre von Präsenz und Absenz ein.

Der Kontakt mit dem kostbaren, zerbrechlichen Kunstwerk lädt das Verpackungsmaterial semantisch auf wie eine Reliquie. Präsentiert anstelle der Werke, werden die Folien und Papiere, die «Kunststoffe», selbst zu fragilen und auratischen Objekten der Betrachtung – ex negativo. Wir suchen nach dem Abdruck als Bild zweiter Ordnung. Die Kulturgeschichte besitzt eine höchst reiche Tradition des Abdrucks und der Spuren auf umhüllenden Tüchern. Bei Moor kommt jedoch ein Moment hinzu, der die Dialektik der Kostbarkeit und des Abfalls eröffnet. Man erinnert sich an Arbeiten von Jimmie Durham oder David Hammons.

Seit 2019 beschäftigt sich Moor verstärkt mit dem Medium der Malerei, die er als Medium der Wiederholung, der Reproduktion und als Strategie der Analyse und Überprüfung einsetzt. Er fokussiert auf die Bildwelt der Werbung ebenso wie auf die Bildwelt der Kunstgeschichte, oder genauer gesagt den Vermittlungsmedien der Kunstgeschichte. Die Kopie und die Reproduktion operieren im Zwischenraum von Original und Wiederholung, Gegenwart und Dokumentation, Realität und Aneignung, der ihn als Künstler immer wieder interessiert. Hier spürt er den Schichtungen nach, die sich in der Ästhetik des Sekundären angereichert haben.

Die Aura der ikonischen installation shots, kopiert aus Hochglanz- Coffee-Table-Books, multipliziert sich in Moors grossformatigem Gemälde Dome (2021). Die Skulpturen Alberto Giacomettis bevölkern die Kathedrale der Kunst wie Statisten eine Bühne. Der Falz des Buches lässt ein falsches Diptychon entstehen. Zwischen Hommage und Dekonstruktion entstehen Ikonen, die die Malerei als Medium feiern. Moors «Historienmalerei der Kunstgeschichte» konzentriert sich auf Giacometti. Die Diskurse des Paragone erweisen sich hier weniger als Wettstreit zwischen Skulptur und Malerei denn zwischen ikonischer Dokumentation und der Gegenwart der Malerei. Wir sind mit einem Kapitel der Mediengeschichte konfrontiert, das über ein selbstreferenzielles Spiel hinausgeht. Dies wird besonders deutlich, wenn Thomas Moor den Naturbildern nachgeht. In der Serie Corporate-Realism (2020) kopiert er die «Naturlabels», mit denen wir als Kundinnen und Kunden in die Konstruktion der Natur als Commodity und Sehnsuchtsfiktion eingebunden werden. Die Natur wird zum Entwurf, der immer als sekundäres, überhöhtes, erinnertes und nachgeahmtes Bild zu verstehen ist. Die Umwelt zeigt als ideologisches Konstrukt, dass sie durch ihre vermeintliche Entpolitisierung didaktischen und ökonomischen Funktionen dient – ganz so wie die Kunst.







English:

It is a dictum that modernism was inclined to articulate as both utopia and doctrine: the experience of art is an experience of immediacy. With concepts of presence and simultaneity, art history evokes qualities that speak to the discourse surrounding aura, the original, and authenticity. If the perception of art is described in a concrete situation, however, framed by institutional rules and shaped by social rituals, a much more complex game begins to emerge. Various mediacies, temporalities, and systems of references come into force. The function of the frame – the “parergon” – shifts into focus, as well as subsidiary paratexts, para-images, and other “auxiliary media”.

On the one hand, perception becomes more concrete in our conduct towards a work of art, in our “interactions” with it. How closely do I approach? What are the instructions for navigating between distance and touch? Which senses are prioritised? How does my own body relate to the physicality of the work of art? Am I offered a seat? Can I linger a while, or even reach out to touch? Am I called to perform as an extra within an interactive setting, which then turns others into spectators?

On the other hand, the idea of an immediacy of perception as an innocent or pure setting is also offset by an individually contaminated horizon of experience. Be it consciously or unconsciously, we situate the respective work within a frame of reference that is characterised by personal association, delimited by historical discourse, or entangled with popular culture and the world of commodities. Intericonic references cannot be separated from the experience of an individual work of art, nor isolated from the rituals that we follow in galleries and museums. “Presentness” in the contemplation of art is overlaid with anachronic moments of expectation and memory.
Viewers become acutely aware of this highly complex superimposition in the increasingly numerous exhibitions and displays that operate between reconstruction and actualisation. The perception of art here can be described as an afterlife, a re-enactment of specific perspectives. The work’s historical situation is augmented by past processes of reception, by historical distance, and the contemporary audience’s “horizon of experience” (Hans-Georg Gadamer), shaped by contemporary frames of reference. In the work of Swiss artist Thomas Moor, both these forms of engaging with expanded modes of perception run like a common thread through his various groups of work.

His questions and approaches are reflected in an exploration of very different media and strategies, ranging from installation settings to documented performances to painting. The chronology of these projects yields a surprisingly rigorous narrative: the early performances delineate a field of observations in the operating system of contemporary art and playfully adopt gestures of historical institutional critique, which questioned the rules of spatial and social inclusion, directed attention to the frame, and thereby examined the significance of context. The artist Louise Lawler panned her camera in a way that, say, the seating bench of a museum or the storage grilles become visible as part of the institutional apparatus. What power structures and control mechanisms do we so often prefer to overlook? In the current debate surrounding the climate catastrophe, Moor’s thermo-hygrographic drawings Climate Control (2014–2016) seems particularly topical. The recording of the artificial climate of a museum space, controlled in accordance with the obligation to preserve artefacts, itself takes the place of the artwork.

The interest in a vocabulary of presentation links the Storage Unit Shows (2012), which connect the place of preservation with the social element of the exhibition space, with the Mood Paintings. They cite and displace the exact wall colours of various exhibition spaces in new exhibition locations. The reproduced painted surface then attains the status of a modernist monochrome statement.

Touching Tangibles is the title of a much-noted performance series that Moor produced as a slide show documentation in the context of the Kiefer Hablitzel Award at Art Basel. We see a figure in a white overall interacting with artworks in exhibition contexts and in private collections. The figure’s movements develop a semantics of affect, creating gestures full of tenderness and care. The figure rehearses forms of touch that would usually be strictly prohibited to viewers. But the figure in white also has a generic aspect, beyond any individuality or social category. As a “dummy” it recalls architectural models of museums, filled with little placeholder figurines of prospective future visitors. The institution of the museum requires “viewers”; they are addressed as a target audience and conceptualised as particular “types”.It appears significant how in the past few years the physical “interaction” with art has been reconsidered.
Despite an increasing acknowledgment of the reception process as a constitutive element of the concept of art, it is striking how art historical illustration for decades excluded viewers from installation shots. It is only in recent publications that images of the audience begin to surface. Art handling – the repositioning, de-installing, transportation, and installation of artworks – expands pure contemplation into the dimension of physical approximation. The sense of sight does not shift the position of a work, but art handling combines touch with attentive care. Each handprint leaves a trace of sweat that might damage a surface. In this context, the white overall seems like a reference to the mandatory white gloves. Moor has experience in this field and observes the complex implications of art handling from an artist’s perspective. As such he also pays particular attention to the filmand fabric-wrapping of works. What is often carelessly discarded as logistical waste Moor employs as a cypher of presence and absence.

Contact with a precious, fragile work of art charges the packing material like a relic. In place of the work, the wrapping film and papers, the “artificial” synthetic materials themselves become fragile and auratic objects of contemplation – ex negativo. We search for the imprint as a second-order image. Cultural history demonstrates a rich tradition of imprints and traces on wrapping cloth. In Moor’s work there is an additional layer, pertaining to unlocking the dialectic of value and trash, reminiscent of works by Jimmie Durham or David Hammons.

Since 2019, Moor has been engaging more intensively with the medium of painting, which he employs as a medium of repetition and reproduction and as a strategy for analysis and review. He focuses on the imagery of advertising and of art history, or more precisely, the educational media of the history of art. Copy and reproduction operate in the interstice between original and repetition, presence and documentation, reality and appropriation, which is a focal point of his interest as an artist. Here he traces the stratifications that have accrued in the aesthetic of the secondary.

The aura of iconic installation shots, copied from the glossy coffee table books of art history, multiplies in Moor’s large-scale painting Dome (2021). Giovanni Giacometti’s sculptures populate the cathedral of art like extras on a stage. The book’s centrefold creates a false diptych. Between homage and deconstruction, these icons celebrate the medium of painting. Moor’s “history paintings of art history” focus on Giacometti, but the discourses of the paragone here prove less about a competition between sculpture and painting than between iconic documentation and the presence of painting. We are confronted with a chapter in media history that goes beyond a self-referential game. This becomes particularly clear when Thomas Moor explores images of nature. In his series Corporate-Realism (2020) he copies the “nature labels” that involve us as consumers in the construction of nature as a commodity and a fiction of aspirational longing. Nature becomes a design that is always to be understood as a secondary, exalted, remembered, and imitated image. Revealed as an ideological construct, the environment is shown to serve didactic and economic functions through its supposed depoliticisation – very much like art.


Translation: Kate Whitebread






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